Unter dem Hashtag „Wir halten zusammen“ und „Zusammen gegen Corona“ wird über alle Kanäle sozialer und informativer Medien zu altgedienten Tugenden aufgerufen. Gegenseitige Rücksichtnahme, die Übernahme von Verantwortung füreinander und gar eigenständige Umsichtigkeit erleben eine Renaissance. Die Corona-Krise bringt uns näher zusammen. Trotz „social distancing“ wächst die soziale Bindung. Menschen halten sich an Hygiene- und Ausgangsregeln, üben sich in Verzicht zum Schutze anderer und bieten offensiv ihre Unterstützung für gefährdete oder von den Umständen schwerer betroffene Personen an. Die lokale Wirtschaft wird aktiv gestärkt, improvisierte Verkaufsstrategien werden gemeinsam erprobt. Und sogar die großen Konzerne halten plötzlich zusammen.
Die Angst vor und der Kampf gegen einen gemeinsamen Feind schweißen zusammen, legitimiert durch die Tatsache, dass der auszuschaltende Gegner nicht menschlich ist.
Bei allem Zusammenhalt, bei aller Umsichtigkeit werden ganz Gruppen von Menschen übersehen. Wer sieht die psychiatrisch erkrankten Menschen, die nicht nur durch das Virus selbst, sondern vielmehr durch die daraus resultierenden Einschränkungen gefährdet sind? Viele von ihnen sind in familiäre oder professionell betreuende Netzwerke eingebunden, über die sie nun weniger betreut, aber weiterhin gesehen werden. Für die Bevölkerung unsichtbar sind sie mit ihren Ängsten und ihrer Einsamkeit nicht ganz allein.
Doch wer sieht die psychiatrisch erkrankten Menschen, die durch diese Netzwerke gefallen sind? Viele von ihnen sind für jeden sichtbar und werden dennoch nicht gesehen. Oder noch trauriger: Sie sind sichtbar, werden gesehen und sehenden Auges missachtet. So titelte die Lokalzeitung Kieler Nachrichten kürzlich „Trinkerszene nimmt es nicht so genau“ und untermalte diesen verachtenden Artikel mit einem Schnappschuss einer Gruppe obdachloser Menschen. Zwischen all den Appellen und Beiträgen zu Zusammenhalt und Umsicht beschieden die Autoren den Ausschluss dieser hilflosen Personen ohne festen Wohnsitz aus ihren Aufforderungen. Ob die betroffenen Personen alle „Trinker“, also Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit, sind, sei mal dahingestellt. Dass sie gegen das Kontaktverbot verstoßen, ist dem beigefügten Beweisfoto unzweifelhaft zu entnehmen.

An den Rand der Solidargemeinschaft und darüber hinaus verdrängt, halten sie untereinander zusammen. Auch sie haben Angst vor der Infektion. Im Falle einer Corona-Erkrankung werden sie um ihr Leben kämpfen müssen. Doch sie können nicht „zuhause bleiben gegen Corona“. Weiten sie ihr social distancing auf ihre Kameraden aus, sind sie mit all ihren Ängsten ganz allein. Postulieren wir nicht aktuell immerzu, dass der Kampf gegen Corona nur zusammen zu gewinnen ist?
Diese Menschen brauchen Menschlichkeit. Wie alle Menschen. Zuwendung, ein Lächeln, Essen, Trinken, Geld. Sie brauchen Schlaf- und Waschgelegenheiten. Die Befriedigung basaler Bedürfnisse und das Gefühl, dass auch sie sehens- und beschützenswert sind.
Lasst uns alle zusammenhalten und jeden sehen.
#GemeinsamdieAugenoffenhalten #Allesehen #GemeinsamgegenCorona