Gedanken einer mutigen Frau

Auch sie hat die Perspektive gewechselt. Wurde von den Dämonen der Depression in die Dunkelheit gezogen. Eine sonst so starke Frau, mitten im Leben stehend, mutig, hilfsbereit, Ankerplatz für so viele Menschen, hat ihren eigenen sicheren Hafen verlassen müssen. Nun sucht sie den Rückweg.

Die Sonne scheint. Die alten Fischerboote schaukeln gleichmäßig im Hafenbecken. Das Wasser glitzert. Es ist kalt, doch sie spürt die Kälte nicht. Die Umgebung ist traumhaft schön, doch sie fühlt das Glück des Augenblicks nicht. Sie kann nicht richtig gucken. Alles verschwimmt im Nebel – bei strahlendem Sonnenschein. Ohne Kontakt nach außen ist sie in sich gefangen und die Zugangswege sind versperrt.

In diesem Moment hält eine enge Freundin ihre Hand. Sie verankert sie in dem Augenblick, lässt sie ein kleines bisschen spüren, dass sie lebendig ist. Weil ihre Freundin auch ohne Worte weiß, wie es ihr geht, weil sie weiß, wie sich das Nicht-Fühlen anfühlt. Ihre Mitwisserin. Ihre Vertraute.

Sie teilen diesen Augenblick. Ihr muss sie nichts erklären, kann ihre Gedanken unsortiert laut werden lassen, um sie gemeinsam zu sortieren. Doch ihre Gedanken drehen sich im Kreis, lassen sich kaum einfangen, um zu Worten zu werden.

Meist wagt sie es gar nicht, stehen zu bleiben, muss immer in Bewegung bleiben. Nur so kann sie dem Karussell in ihrem Kopf entgehen. Die innere Unruhe treibt sie an, sodass bei aller Antriebslosigkeit nicht an Sitzen oder Liegen zu denken ist. Sie hat Angst. Angst vor den Gedanken, Angst vor den Gefühlen, die sie überwältigen, wenn sie zur Ruhe kommt.

Verankert in diesem sonnigen Nachmittag, wagt sie es nun doch. Sie wechselt in diesem Moment mutig von ihrem Funktionsmodus in den Zustand der geschwächten, verletzlichen und hilfsbedürftigen Person, die sie auch ist. Die sie aber nicht sein darf.

Nach vielen Jahrzehnten hat sie es im vergangenen Jahr gewagt, Schwäche zu zeigen und sich der Tatsache zu stellen, depressiv erkrankt zu sein. Doch nicht nur sie musste sich dieser neuen Perspektive stellen. Auch ihre Familie und Freunde waren und sind betroffen. – Ihre Gedanken nehmen jetzt Fahrt auf, breiten sich aus. Ein Satz drängt sich besonders auf. „Du darfst nicht wegbrechen. Du bist der Dreh- und Angelpunkt unseres Zusammenlebens.“ Diesem Risiko kann sie ihre Familie nicht aussetzen. Ihre Krankheitsphase muss vorbei sein. Sie muss wieder funktionieren, darf keine Schwäche mehr zeigen. Muss sich zusammenreißen. Und so bleibt sie in Bewegung, lässt sich von Angst und Unsicherheit treiben.

Die begonnene Therapie droht sie ins Wanken zu bringen, deshalb geht sie nicht mehr hin. Stattdessen hält sie sich mit Aufgaben beschäftigt, die greifbare Ergebnisse zum Nutzen ihrer Familie liefern. So kann sie sich nützlich machen und fühlen. Einen Sinn haben. Sie funktioniert. Erfüllt Erwartungen. Enttäuscht endlich nicht mehr. Zumindest nicht mehr so oft.

Dennoch hat sie das Gefühl, nichts wert zu sein und anderen zur Last zu fallen. Dafür empfindet sie Schuld. Dass andere Menschen sie mögen, gar lieben können, scheint ihr oft unvorstellbar. Dann ergreift sie plötzlich ein so intensives Gefühl der Angst vor dem Verlust.

Es gibt Augenblicke, in denen diese Angst ihr einziges und alles übertönendes Gefühl ist. Dann findet sie den Zugang zur Liebe nicht mehr und fühlt sich im zwischenmenschlichen Erleben verloren. Bald wird sie von den Gefühlen ihres Gegenübers überwältigt, eingeengt, gefangen. Sie fühlt sich ungenügend und ungerecht, möchte so gerne etwas zurückgeben, ist aber hilflos außerstande, kann eigentlich auch nichts annehmen.

Jede Berührung tut dann weh, denn sie spürt dann die Schuld und ihre eigene Unzulänglichkeit schmerzhaft in ihrer Seele. Dieses Spannungsfeld scheint sie schier zu zerreißen. Sie wagt es nicht, diese Gedanken und Gefühle auszusprechen, lässt sie hier am Hafen erstmals so umfänglich zu. Verankert in der Gegenwart traut sie sich ganz vorsichtig, die Perspektive zu wechseln, in die Rolle ihrer Vertrauten zuhause zu wechseln. Ihr wird für einen Moment klar, dass auch sie hilflos sind.

Diese wundervolle Frau ist depressiv erkrankt. Sie braucht jemanden, der sie an die Hand nimmt, sie fest verankert, ihrer Sicherheit gibt. Mit einem Weggefährten, einem Mitwisser, einem ebenfalls Erkrankten, ist es manchmal leichter, in die Welt der Gedanken und Gefühle einzutauchen, nach Worten zu suchen, Zusammenhänge ans Licht zu bringen und den Weg auf das Festland wiederzufinden. In Sicherheit.

Mit dieser Mitwisserin und noch viel wichtiger mit ihrer Familie und ihrer Liebsten, wird sie den Rückweg in ihren sicheren Hafen finden. Denn ihre Vertrauten gestalten ihren Liegeplatz und lotsen sie dorthin zurück.

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