Von Krankheit und Psychiatrie

Ich bin Psychiaterin. Und ich bin psychiatrisch krank. Ob sich das gut verträgt, werde ich oft gefragt. Ob sich psychiatrische Erkrankungen mit irgendeinem Beruf, – mit irgendeinem Aspekt alltäglichen Lebens – vertragen, frage ich.

Meine Erkrankung heißt rezidivierende depressive Störung und schlich sich während meines Studiums in mein Leben. Seitdem begleitet sie mich, bedroht mich, holt mich immer wieder ein, fängt mich ein, lässt mich erstarren und alles um mich herum dunkel werden. Dann muss die Suche nach dem Licht beginnen und inzwischen weiß ich, dass ich es immer wieder finden kann. Und ich weiß, dass ich es nicht allein finden kann, dass ich Hilfe brauche und auf meine Anker vertrauen kann, die ich im Hellen ausgeworfen habe.

Mit Anfang Zwanzig wusste ich es noch nicht. Mich beschlichen eine zunehmende innere Kälte, Ängste und quälende Gleichgültigkeit. Meinen Fokus auf das Studium verlor ich nie. Den Fokus auf mich selbst, auf mein inneres Erleben, verlor ich. Ich verlor den Zugang zu meinen Gefühlen und Wünschen, zu meinem Körper. Die Grenzen meines Körpers waren nicht mehr sicher spürbar für mich, einzig eine bleierne Schwere konnte ich ausmachen. Abends, wenn ich allein war und um mich herum Ruhe einkehrte, hielt in meiner Brust die Unruhe Einzug. Wie ein rasendes Karussell in meinem Brustkorb. In der äußeren Stille der Nacht fühlte ich mich mit meinem inneren turbulenten Chaos so einsam. Einsam und hilflos. Ich sprach nicht darüber und blieb lange damit allein. Letztlich aber war es meine Gleichgültigkeit, die meinen engsten Freunden auffiel. Mir selbst war zu diesem Zeitpunkt der Krankheitswert meiner Veränderung nicht bewusst.

Auf Drängen meiner mutigen Vertrauten suchte ich mir schließlich Hilfe. Ich stellte mich einer Psychotherapie, in der ich nur langsam Fuß fassen konnte. Unter geduldiger Anleitung entdeckte ich mögliche Ursachen von Anspannung und innerer Unruhe, studierte Rituale zu deren Minderung ein und lernte meinen Körper wieder kennen. Das wichtigste aber war der Gewinn der Zuversicht. Zuversicht, aus diesem Zustand herausfinden zu können und die Erklärung für denselben. Nach langen zwei Jahren intensiver Therapie ging ich als Siegerin gegen die Depression vom Platz.

Aus einer Depression aufzutauchen ist wie ein Wunder. Alle Sinne nehmen daran teil. Die Welt erstrahlt wieder in allen Farben, die Sonne fühlt sich wieder warm, der Wind sich wieder kalt an, das Herz kann wieder Gefühle in den Augen anderer lesen und vor allem wieder selbst Gefühle empfinden.

Inzwischen habe ich weitere depressive Phasen erlebt. Ich kenne ihren Namen, kenne aber auch die Hebel, die zu ihrer Bewältigung zu betätigen sind. Neben einem professionellen Netz, fängt mich auch ein zuverlässiges und liebevolles soziales Netzwerk auf. Meine Freunde und meine Familie sind meine Anker. Sie halten mich bei drohender oder gar tobender Sturmflut und versichern mir, nach dem Unwetter noch immer im sicheren Heimathafen zu liegen. Trotz allem bleibt die Angst. So fest die Anker auch sein mögen, können sie die Angst nie gänzlich vertreiben. Es ist aber auch die Angst, die mich wachsam den Himmel beobachten und achtsam Veränderungen wahrnehmen lässt.  

Ein wichtiger Anker für mich ist auch meine Arbeit. Hier kann ich anderen erkrankten, zumeist viel schwerer erkrankten, Menschen ein Anker sein und sie dabei unterstützen, ihren eigenen Weg im Umgang mit ihrer Erkrankung zu finden. Ihnen Zuversicht vermitteln. Und hier tanke ich für mich den so wichtigen Lebenstreibstoff Selbstwert. Ich kann bei meiner Arbeit in eine Rolle schlüpfen, in der ich mich souverän und sicher fühle, in der ich inzwischen die Regeln kenne. Es sind die absurden, bizarren Geschichten psychotisch erkrankter Patienten, die mich faszinieren. Wie gerne nehme ich die Einladungen derselben an und lasse mich durch ihre Erlebniswelten führen. So kann auch ich für eine Weile in eine ganz andere Welt abtauchen. Und es sind die großen Gefühlsstürme und überschäumenden Emotionen von Patienten, die mich vorübergehend aus meiner eigenen Gefühlsstarre hebeln, mich mitreißen und lebendig sein lassen.

Inzwischen kann ich die Frage der Kompatibilität von Erkrankung und psychiatrischer Tätigkeit beantworten: Ich liebe meine Arbeit – in jeder Phase meines Seins – und ich brauche sie als Anker und Kompass. Ich sehe keinen Nachteil in meiner Erkrankung in Bezug auf meine Arbeit. Ich kann den Depressiven nachempfinden und ihnen unerwartet großes Verständnis entgegenbringen, ihnen Worte bereitlegen für das, was sie selbst nicht in Worte fassen können. Und ich kann den hoch emotionalen Patienten, den wahnhaften Patienten, authentisch Klarheit und Erdung geben. Aus tiefer Überzeugung vermittle ich ihnen Hoffnung und Zuversicht, an der Hand eines Therapeuten den Weg in den sicheren Heimathafen wiederfinden zu können. So bilden wir erfolgreiche Teams und helfen einander, neue Perspektiven (wieder) zu entdecken.

Meine Arbeit ist für mich ein großes, erfüllendes Geschenk.

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