„Nackt! Ganz nackt!“ „Seht sie euch an, wie sie da nur wieder steht!“, kommentieren sie. „Ja – mach ruhig die Augen zu. Wir sehen dich. Wir sehen dich immer.“, bedrohen sie. „Als würde das Waschen jetzt gegen den Schmutz helfen, der an dir haftet.“, beschämen sie. Sie sind allgegenwärtig. Schon mit dem ersten Augenaufschlag am Morgen marschieren sie ein und lassen sich kaum aus dem Tritt bringen.
Es sind die Stimmen in ihrem Kopf, die jeden Tag ihres Lebens zu einem Kampf machen. In jedem Augenblick geben sie ihr das Gefühl, beobachtet zu werden, entwertet zu werden, wertlos zu sein. Sie fühlt sich hilflos ausgeliefert, machtlos der Macht der Stimmen gegenüber.
Den Blick auf die Vergangenheit gerichtet, erkennt man schnell den Zusammenhang, die Wiederholung. Jahrelang war sie als Kind sexueller Gewalt ausgesetzt. Jede Nacht lag sie wachsam in ihrem Bett im Kinderzimmer und lauschte. Nächte mit ihrer Dunkelheit und ihrer unheilvollen, lauten Stille sind für sie schon immer bedrohlich gewesen. Damals war es ihr Vater, der ihre Nächte zu Albträumen werden ließ. Für immer.
Und auch am Tage wird sie von den Bildern eingeholt, sieht immer wieder den grausamen Film ihrer eigenen Erlebnisse. Unvorhersehbar wird sie von den Erinnerungen in ihr inneres Kino gedrängt, in dem sie immer die einzige Besucherin bleibt. Worte, Geräusche, Gerüche, Gegenstände, Personen… alles kann das Band von Neuem starten. Und sie ist wieder hilflos und ohnmächtig. Sich selbst ausgesetzt. Ihrer Biografie ausgesetzt.
Kindern, die in ihrem Elternhaus derart ungeschützt Opfer werden, bleibt der Zugang zur Erfüllung grundlegender menschlicher Bedürfnisse verwehrt. Sie erleben Kontrollverlust und Hilflosigkeit statt Autonomie, verinnerlichen die ihnen aufgedrängte Wertlosigkeit, lernen die Fatalität vertrauensvoller Bindungen und verlieren den Glauben an Freude und Lust.
Und so ist sie – geprägt vom Damals – im Heute noch immer voller Angst, die Kontrolle zu verlieren. Im Theater sitzt sie immer ganz hinten, immer am Rand, auf dem Sofa sitzt sie immer aufrecht und niemals würde sie einen Zug betreten. Jederzeit überblickt sie ihre Umgebung und kennt den Fluchtweg, rechnet sie sogar – oder erst recht – in den eigenen vier Wänden mit einem Angriff.

Mühsam erkämpft sie sich einen neuen Blick auf sich selbst. Die Überzeugung, wertlos zu sein, haftet ihr hartnäckig an. Ihren Körper sieht sie als störende Angriffsfläche. Doch die größte Mauer zieht ihr Misstrauen um sie. Es kostet sie große Überwindung – darüber hinweg – hin zu Vertrauen zu gelangen. Doch es lohnt sich, denn es sind die neuen, stützenden, wohlwollenden Bindungen, die ihr Leben lebenswert machen und ihr Grund und Kraft für den Kampf gegen Stimmen, Angst und Erinnerungen liefern.
Menschen wie sie leiden nicht nur unter ihrer Geschichte und der daraus resultierenden schweren Erkrankung, sondern insbesondere auch unter dem Deckmantel des Schweigens, der von der Gesellschaft auf ihre Erlebnisse gelegt wird. Mit betroffenen Blicken und peinlicher Stille, werden sie in ihren Befürchtungen, wertlos zu sein und in ihrem Gefühl tiefer Scham bestätigt.
Ein Perspektivwechsel muss her! Diese Menschen müssen auf offene Ohren und Arme stoßen, sie müssen erfahren, dass sie wertvoll und frei von Schuld sind. Dass sie sich ihrer Geschichte nicht zu schämen brauchen. Dass wir uns ihrer Geschichte nicht schämen. Wenn es schon in ihrer Kindheit versäumt worden ist, so müssen sie als Erwachsene den sicheren Schutz der Gesellschaft hinter sich spüren.
Nicht die Opfer gehören an den Rand der Gesellschaft gedrängt! Auf die Opfer müssen wir den Blick wenden. Die Perspektive wechseln. Sie nicht mehr außer Acht lassen.